Geschichten aus der Tagespflege
Von Stefan Hagedorn ~ 20.09.2022
Wie die Pflegekraft zur Arbeit kam
„Zu spät. Mist, ich bin zu spät. Die S-Bahn ist gleich weg.“ Keuchend hastete er in Richtung des Bahnsteiges. Schnell, schnell durch die Unterführung. Der nackte Stein hielt nichts von der Sommerhitze ab. Er wischte den Schweiß von seiner Stirn. Schwerer atmend als zuvor erreichte er die steile Treppe und erreichte den Bahnsteig gerade als die Bahn einfuhr.
„Ja, geschafft.“, lobte er sich. Wollte einsteigen und griff an seinen Hals, wo normalerweise seine Corona-Maske an einem Band hing. Er griff ins Leere. Schlagartig blieb er stehen, stampfte auf, senkte den Kopf und schlug mit seinen Armen wild umher. „Nein, nein, nein. Das kann doch nicht wahr sein. Das passiert mir doch sonst nicht.“
Er starrte eine gefühlte Ewigkeit auf seine Uhr. Die Sekunden verronnen und verronnen. Ausatmend besann er sich. Er rannte die Treppe hinunter durch die Unterführung hinaus zur Hauptstraße und den steilen, langen Berg hinauf. Mit der Hand an seiner rechten Seite blieb er stehen und atmete schwer. Sich weiter hinauf quälend erreichte er seine Wohnung. An der Garderobe hing die Maske, schön ordentlich platziert. Sie herunterreißend stürmte er hinaus, sah auf seine Uhr.
„Der Bus kommt gleich“, sagte er lächelnd zu sich selbst.
Langsamer, um Kräfte zu sparen, ging er zur Haltestelle. Setzte endlich seine Maske auf und fuhr mit dem Bus eine Haltestelle weit zum Bahnhof. Er lief gemächlicher und diesmal musste er sogar einige Minuten warten. Hüpfend stieg er in die S-Bahn ein und fuhr zum Hauptbahnhof. Die Fahrt wirkte länger als sie war und ihm fielen immer wieder die Augen zu. Während der Einfahrt des Zuges erwachte er vollends und riss die Augen weit auf. Zügig stieg er aus und rannte zur Haltestelle des nächsten Busses. Knapp erreichte er ihn.
Auf die Uhr schauend biss er sich auf die Unterlippe, bis es schmerzte.
„Mach schneller, ich muss meine U-Bahn erwischen.“
Doch der Bus hörte nicht auf ihn und hielt an jeder Haltestelle mehrere Minuten, selbst wenn keine Fahrgäste dort waren.
Er zappelte hin und her, dann sah er sie. Seine Haltestelle. Erneut hinaushastend beeilte er sich, die U-Bahn zu erwischen. Dann wäre er in zehn Minuten an seinem Ziel angekommen.
Doch mit weit aufgerissenen Augen, sah er die rettende U-Bahn von ihm wegfahren.
„Wieder laufen. Was ist denn heute los?“
Den Kopf gesenkt schlurfte er weiter.
Nach einer gefühlten Ewigkeit betrat er sein Arbeitsgebäude. Dann stolperte er die Treppe hinunter in den Keller und lief zu den Umkleidekabinen. Er wollte seinen Spint öffnen und wühlte in seinen Taschen rum. „Wo? Wo?“ Als er merkte, wie leer seine Taschen waren, inspizierte er den Boden. Doch bis auf Staub und Krümel fand er nichts.
Mit der Hand an der Stirn ging er hin und her.
Er ging zügig zum Büro des Hausmeisters, auf derselben Etage.
Alles leer, niemand da. „Verdammt.“
Mit dem Aufzug suchte er alle Etagen ab.
Nichts.
Wie vom Erdboden verschluckt.
Blieb nur noch die Tiefgarage des Gebäudes.
Immer noch nichts.
„Nein, Mario, wo bist du!“, rief er laut.
Zurück im Keller sah er den kleingewachsenen, etwas stämmigen Haustechniker.
„Mario, Mario, du bist meine letzte Rettung. Ich habe meinen Schlüssel zu Hause vergessen, bitte breche meinen Spind auf.“
Etwas widerstrebend holte Mario seine Zange, folgte ihm und brach das Vorhängeschloss auf.
Erleichtert, aber auch wütend über sich konnte er sich umziehen und eilte auf Station.
Von Stefan Hagedorn ~ 30.08.2022
Lolas Rache
Lola kam regelmäßig zur Tagespflegeeinrichtung. Sie hatte auch Spaß und lachte viel. Doch hinter ihrer Fassade sah es anders aus. Sie verließ die Tagespflege nach einigen Wochen wieder, da ihr zu wenig geboten wurde, wie sie fand. Natürlich erwähnte sie nicht, dass sie bei allen angeboten Aktivitäten sich zurückzog und ein Schläfchen hielt.
Als sie dann wieder jeden Tag zu Hause war, wünschte sie sich viel mehr Aufmerksamkeit. Am liebsten wäre es ihr, wenn immer jemand in ihrer Wohnung wäre und mit ihr spricht. Aber niemanden aus ihrer Familie, die hatte sie alle vergrault. Zum einen durch ihre penetrante Art immer Recht haben zu wollen und zum anderen durch ihren niemals endenden Redefluss. Sie hatte auch schon einige Selbstmordversuche hinter sich, aber entweder die Medikamente waren nicht stark genug oder der Föhn, den sie in die Wanne nahm, war defekt.
So musste sie allein zu Hause leben.
Ganz allein.
Am liebsten hätte sie den Hausmeister ihrer Wohnung, Andrea, bei sich gehabt. Er war ein junger Italiener, mit goldgelocktem Haar, welches er immer wieder gekonnt zur Seite warf. Er war ihr einziger Trost, der dieses schnöde Leben einigermaßen erträglich machte.
Es störte sie nicht, dass er etwa vierzig Jahre Jünger war, wollte sie doch nur mit ihm reden und kochen und was man halt so macht machen.
Um Aufmerksamkeit von ihm zu bekommen, lief sie eines Nachts ohne ihren helfenden Rollator in ihrer Wohnung. Wie sie es gehofft hatte, stürzte sie und brach sich das Bein. Sie drückte ihren Notrufknopf, den sie immer am Arm trug und wartete darauf, dass Andrea kam und sie rettete.
Nach einigen Minuten des Wartens klingelte es und eine tiefe Männerstimme brummte von draußen:
„Hallo? Rettungsdienst, ist alles in Ordnung?“
Oh nein, die wollte ich doch nicht, dachte Lola. Sie rief: „Ich bin gestürzt und kann nicht aufstehen. Rufen sie den Hausmeister. Er kann die Tür öffnen.“
Weitere zehn Minuten später öffnete sich ihre Haustür und sie sah, wie Andrea die Sanitäter hereinließ und wieder verschwand. Lola streckte ihre Hand nach ihm aus, doch er war zu weit weg. Er beachtete sie nicht.
Sie wurde in das nächste Krankenhaus gebracht.
In den Tagen ihrer Krankenhausgefangenschaft, erhielt sie keinen Besuch. Nicht einmal von Andrea. Ihrem Andrea.
Wieder daheim schrieb sie einen knappen Brief. Sie nahm sich das Kabel ihres Fernsehers, wickelte es um ihren Hals und warf diesen mit großer Mühe aus dem Fenster. Sie starb wenig später daran.
Als am nächsten Tag Andrea in die Wohnung kam, um etwas zu reparieren, erblickte er die Tote und fand den kurzen Brief. Er las:
Für Andrea,
weil du mich so wenig beachtet hast, habe ich mich umgebracht. Du bist schuld an meinem Tod.
Lola F.
Von Stefan Hagedorn ~ 09.08.2022
Frau Schuster und der Plüschelefant
Frau Schuster schaute wie immer sehr grimmig und gelangweilt in den Tag. Was sollte sie auch anderes machen. Ihr war nicht nach Basteln oder Singen. Auch das Essen, in dieser Einrichtung, vermochte ihre Stimmung nicht zu heben. Es war entweder zu kalt, zu heiß, zu fad oder zu würzig und meist auch noch zu wenig oder zu viel. Sie hatte immer das Gefühl der Koch würde sie nicht mögen und genau deshalb nur bei ihrem Essen alles falsch machen. Aber sie wollte sich nicht ständig beklagen, was nützte es schon sich mit neunzig Jahren noch zu beschweren?
Nichts.
Sie hoffte insgeheim, dass sie das Essen irgendwann umbringen würde. Nicht nur, weil sie des Lebens müde war. Vor allem wollte sie zu Ihrem Mann und ihrer Tochter, welche vor ihrer Zeit gestorben war.
Wie traurig und öde dieses Leben doch ist, dachte sie regelmäßig.
Aber was sollte sie schon tun, nun saß sie halt hier und versuchte sich von ihrem Leben abzulenken. Sie mochte die junge Schwester eigentlich. Schließlich gab sie sich alle Mühe keine Langeweile aufkommen zu lassen und war stets besorgt um die Gesundheit ihrer Gäste. Doch auch sie vermochte nicht Frau Schusters Schmerz zu lindern.
Die Schwester, Lara hieß sie, wollte etwas Neues ausprobieren, wie sie meinte. Und holte drei Handpuppen aus einem Schubfach im Regal. Sie fragte: „Frau Schuster, mögen Sie Handpuppen?“
„Hähähä“, lachte Frau Schuster etwas verlegen, „überhaupt nicht. Ich hasse so einen Kinderkram.“
Lara konnte es nicht lassen und zog eine Puppe auf ihre Hand. Es war ein Elefant, mit großen Ohren. Die Pflegerin öffnete immer wieder den Mund des Elefanten, in dem sie ihre Finger bewegte und rief laut: „Törö! Törö!“
Es sah so lächerlich aus, dass sich Frau Schuster ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte. Als der Plüschelefant nun plötzlich auf sie zu gerast kam, kurz vor ihrem Gesicht stoppte und die Schwester „Huhar!“ rief, erschrak die ältere Dame und fing, ohne es zu wollen, laut zu lachen an.
Sie lachte so heftig, dass sie sich den Bauch hielt und sie vor lauter Tränen nichts mehr sehen konnte.
Schwester Lara sprach, leicht ironisch: „Ich dachte, Sie mögen keine Handpuppen.“
„Mag ich auch nicht.“, erwiderte Frau Schuster lachend.
„Warum lachen Sie dann?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Soll ich etwa weinen?“
Es war sehr seltsam für Frau Schuster, aber es hatte ihr doch irgendwie Spaß gemacht. Doch war sie viel zu stur, um dies zuzugeben.
Letzten Endes genoss sie den restlichen Tag und war sogar ein bisschen wehmütig als sie vom Fahrdient abgeholt wurde. Sie nahm sich vor, das nächste Mal nicht zu lachen.
Ob ihr das gelang ist eine andere Geschichte.